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Freiheit üben

„When I am an old woman I shall wear purple / With a red hat which doesn’t go and doesn’t suit me.“ – „Wenn ich einmal eine alte Frau bin, werde ich Lila tragen, / zusammen mit einem roten Hut, der nicht dazu passt und mir nicht steht.“ So heißt es in einem Gedicht von Jenny Joseph 1. Und dann träumt die Dichterin davon, wie sie im Alter endlich auf alle Konventionen pfeifen wird und auf alles, was sie jetzt als jüngere Frau einengt und beschwert. Wenn sie alt ist, wird sie endlich anziehen, was sie will. Sie wird essen, was und soviel sie will. Sie wird sich nicht mehr gut benehmen, kein Vorbild mehr sein. Und was andere von ihr denken, ist ihr dann auch egal. Wenn ich eine alte Frau bin, so stellt es sich die Dichterin vor, dann bin ich endlich frei.

Frei sein – danach sehnen sich viele Menschen. Denn Freiheit wird nicht nur durch Fesseln und Gefängnismauern eingeschränkt, sondern viel häufiger auch durch Erwartungen, die andere an einen haben und denen man gerecht werden möchte. Und durch Maßstäbe, die man selbst an sich legt und von denen man nicht lassen kann. Und immer wieder auch durch die bange Frage, ob man Aufgaben, die man übernommen hat, wohl gut genug gemacht hat. Auch solche Selbstzweifel können einem das Herz ganz schön schwer machen und verhindern, dass man frei atmet.

„Christus hat uns befreit, damit wir endgültig frei sind. Bleibt also standhaft und unterwerft euch nicht wieder dem Joch der Sklaverei!“ (Gal 5,1) So schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinden in Galatien. Denn als aufmerksamer Seelsorger sieht er, dass auch seine Schwestern und Brüder dort zu scheitern drohen an den Ansprüchen, die sie aneinander und auch an ihr Christsein stellen. Ansprüche sind das, die den Menschen vermitteln, dass ihr Leben nur dann genügt, wenn sie sich selbst unglaublich anstrengen. Und damit unterscheiden sich diese Ansprüche gar nicht so sehr von dem, was uns heute unter Druck setzt: von der Idee nämlich, dass wir und unser Leben nur dann in Ordnung sind, wenn wir selbst die Bedingungen dafür erfüllen, und dass es allein in unserer Verantwortung liegt, ob unser Leben gelingt. Paulus beobachtet, dass seine Schwestern und Brüder sich mit dieser Vorstellung heillos überfordern. Denn kein Mensch kann immer alles richtig machen – egal ob es um das Befolgen religiöser Regeln geht oder um gesellschaftliche Konventionen oder vermeintliche Gesetzmäßigkeiten, mit denen wir uns im Alltag belasten. Ihr seid doch frei, schreibt Paulus in seinem Brief. Ihr seid frei und wir sind frei, weil Gott uns frei macht. Und das bedeutet, dass wir unser Leben gut sein lassen dürfen, so wie es ist – in aller Unvollkommenheit; mit allem, was nicht ganz zusammenpasst, und auch mit dem, was offenbleibt. Es ist gut, weil Gott es gut macht, nicht wir.

Gott sagt „Ja“ zu Deinem Leben und das genügt. Du darfst ganz Du selbst sein – Du bist frei. Gar nicht so leicht, das für sich selbst gelten zu lassen. Die Christinnen und Christen in Galatien jedenfalls hatten Schwierigkeiten damit. Der Apostel Paulus musste sie nachdrücklich daran erinnern, wahrscheinlich nicht nur einmal. Und ich kann das gut nachvollziehen. Denn ich glaube, Freiheit braucht Übung; ab und an einen kleinen Moment, in dem wir es uns ganz bewusst zugestehen, Dinge anderes zu machen als gewohnt – um mal zu spüren, wie sich das anfühlt: mehr bei uns zu sein und bei dem Leben, das Gott uns schenkt. Und ich glaube, Freiheit braucht Zuspruch – Menschen, die uns das immer wieder sagen, so wie der Apostel Paulus: Vergiss es nicht, es liegt nicht an Dir! Und ich glaube, Freiheit braucht Geduld, auch mit uns selbst. Denn die Sache mit der Freiheit ist eine Lebensaufgabe – man lernt sie nur in kleinen Schritten.

Das Gedicht von Jenny Joseph endet übrigens so: „But maybe I ought to practise a little now? / So people who know me are not too shocked and surprised / When suddenly I am old, and start to wear purple.“ – „Vielleicht sollte ich jetzt schon ein bisschen üben? / Dann sind die Menschen, die mich kennen, nicht allzu schockiert und überrascht, / wenn ich plötzlich alt bin und anfange, Lila zu tragen“...

Pastorin Stefanie Reinert

Foto: mit KI erstellt

1 Jenny Joseph, Warning.

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